veröffentlicht: 12.10.2017
Der erste Eintrag in meinem Traumbuch ist auf den 30.12.2007 datiert - also fast zehn Jahre alt.
Allerdings war es nicht mein erstes Traumbuch. Das allererste war ein oranges, kleines, liniertes Spiralnotizbuch, in dem nicht viel drin stand und das ich deswegen damals wegwarf.
Ich begann im Oktober/ November 2007 jeden Morgen meine Träume aufzuschreiben oder zumindest die Fragmente, an die ich mich erinnerte. Das war anfangs nicht viel: eine Farbe, eine Person, ein
Gefühl, manchmal gar nichts. Ich ließ Platz zwischen den Einträgen, falls mir im Laufe des Tages noch etwas einfiel, was so gut wie nie geschah. Es war anstrengend und jeden Morgen eine
Überwindung. Ich wollte nur noch ein klein bisschen dösen, aber schnell merkte ich, dass Traumerinnerungen fragil und zerbrechlich sind, die von jeder wachen Sekunde fein zersetzt werden, bis sie
einem durch die Finger rieseln. Was gerade noch klar war, ist auf einmal verschwunden. Der Wecker stellte sich als größter Feind heraus.
Ich blieb dabei, obwohl mein Wille mehr über meine Träume herauszufinden jeden Morgen gegen meine Gewohnheit ankämpfen und gewinnen musste. Nach ein paar Wochen war meine Traumerinnerung stabil - d.h. ich erinnerte mich an mindestens einen Traum pro Nacht - und so begann ich am 30.12.2007 ein neues, richtiges Traumbuch, das mich fast ein Jahr - bis zum 10.12.2008 - begleitete.
Die Anfangszeit war von Experimenten gekennzeichnet: Wie schreibt man einen Traum auf? Die zeitliche Abfolge ist nicht unbedingt linear, Orte und Personen hüpfen, verschwimmen und tauschen die Rollen, Gefühle widersprechen den Bildern und ich bin handelnde und beobachtende Person gleichzeitig. Wie detailliert müssen die Aufzeichnungen sein, damit sie später noch Sinn machen und was ist zu detailliert? Welche Zusatzinformationen sind notwendig? Wäre es nicht gut, offensichtliche Alltagsverarbeitungen direkt zu kennzeichnen, damit ich mich später auskenne, wenn ich die Träume noch mal lese?
2008 habe ich zum Beispiel zum Einschlafen die Serie Six Feet Under geschaut (dringende Sehempfehlung!) und in der Phase häufig von Tod und Beerdigungen geträumt. Wenig verwunderlich, wenn man weiß, worum es in der Serie geht, möglicherweise aber verstörend, wenn ich Jahre später darüber stolpere und den Zusammenhang nicht mehr herstellen kann.
Auch die praktische Seite galt es zu testen:
Was für eine Buch nehme ich zur Aufzeichnung? (Spiralbindung mag ich z.B. nicht, auch ein Grund warum das allererste im Müll landete. Größe A6 eignet sich gut für die Mitnahme auf Reisen.)
Liniert oder blanko? (Mittlerweile mag ich beides, wobei linierte Bücher schneller vollgeschrieben sind.) Wie viel Licht brauche ich zum Schreiben und stört das die Person, die neben mir schläft?
Welcher Stift eignet sich am besten? (Seit Jahren Pentel Energel 0.7 in schwarz.)
Und was, wenn ich nachts aufs Klo muss? Wenn ich den Traum dann nicht aufschreibe, ist er wahrscheinlich für immer futsch. Wenn ich ihn aufschreibe, reißt es mich eventuell komplett aus dem Schlaf und ich kann nicht mehr einschlafen. (Passiert mir nur selten.)
Und natürlich die wichtigste Frage: Was mache ich mit den notierten Träumen? Deute ich sie jeden Tag? Und wenn ja, wie? Vertraue ich auf Traumdeutungsbücher oder mich selbst?
Und lerne ich in meine Träume einzugreifen, Stichwort luzides Träumen?
Luzide Träume bezeichnen Träume, in denen man sich nicht nur bewusst ist, dass man träumt (wie in einem Klartraum), sondern auch aktiv eingreift. Durch diese Technik hätte man einen Zugang zu seinem Unbewusstsein, könnte Fragen stellen, Dinge aufarbeiten, die einen belasten, Fähigkeiten üben und verbessern (physische Verbesserungen im Wachzustand konnten in Studien bestätigt werden, wenn die Probanden sie im Traum übten), sowie Fantasien ausleben, die in der Realität nicht möglich sind (fliegen ist die jugendfreie Variante davon).
In den Büchern, die ich las, stolperte ich immer wieder über luzides Träumen, weshalb ich die Technik natürlich auch lernen wollte. Ich übte die Methode, die es auslösen sollte. Ich gehe hier nicht detailliert darauf ein, Interessierten seien die unten angeführten Bücher empfohlen. Nur so viel, eine Methode umfasst die so genannten Reality Checks. Sie geht davon aus, dass wir Gewohnheiten, die wir im Wachzustand haben, auch im Traum übernehmen. Deswegen soll man sich im Wachzustand regelmäßig fragen, ob man wach ist oder gerade träumt. Dies muss allerdings auch überprüft werden, anhand von Dingen, die einem im Traum schwer fallen: Lesen, Zahlen erinnern und rechnen, sich im Kreis drehen, stehen bleiben und prüfen ob sich der Raum weiterdreht, die Fragen beantworten, was man vorher gemacht hat und wie man hierher gekommen ist, sowie seine eigenen Hände anschauen. Man kann außerdem testen, ob die Wände stabil sind (im Traum nicht immer) und intensiv nachdenken, ob es Sinn macht, dass man mit diesen Personen an genau dem Ort ist. Es gibt die schöne Anekdote, dass ein luzider Träumer bei seinem Reality Check zum Ergebnis kam, dass er träumt und daraufhin von der Leiter sprang, um zu fliegen. Er irrte und fiel der Gravitation zum Opfer.
Bei mir war es umgekehrt. Nach ein paar Tagen üben, fragte ich mich im Traum, ob ich wach bin, antwortete überzeugt mit "Ja!" und fuhrt fort zu träumen. Die Lösung mag darin liegen, dass ich die Checks im Wachzustand nicht gewissenhaft genug durchgeführt habe und gleichzeitig auch in Träumen immer glaube problemlos lesen zu können, obwohl die Buchstaben herumhüpfen, verschwommen sind oder ich sie gerade aus einem anderen Grund nicht entziffern kann.
Ich hörte auf zu üben, denn ich wollte meinen Alltag nicht länger mit Reality Checks belästigen - und meine Träume auch nicht.
Sind denn meine Träume weniger wert, nur weil sie nicht luzid sind? Nein, ist nach wie vor meine Überzeugung. Im Gegenteil: Durch die Fokussierung auf luzide Träume (die mir auch häufig in Büchern und Gesprächen begegnet), wird das Potenzial und der Erkenntnisgewinn alltäglicher Träume herabgesetzt, was ich schade finde. Einen abschließenden Satz noch zu luziden Träumen: Ich hatte in den letzten zehn Jahren unzählige Klarträume und einen luziden Traum, den ich dafür genutzt habe mich von einer Person zu verabschieden (bzw. meine Psyche hat dadurch die Möglichkeit bekommen loszulassen und abzuschließen), was definitiv zu den wichtigsten und emotionalsten Traumerlebnissen gehörte, die ich je hatte.
Die Inhalte meiner Träume haben sich über die Jahre natürlich stark verändert. Wie genau, werde ich hier nicht aufschreiben, denn es gibt für mich nichts Persönlicheres. Träume überraschen mich häufig und es gibt welche, von denen ich nicht gedacht hätte, dass sie in meinem Hirn stecken, aber ich nehme jeden vorurteilsfrei an und versuche gar nicht erst sie bis ins kleinste Detail zu ergründen. Der Großteil beschäftigt sich mit Alltagsverarbeitung und greift Themen, Personen, Orte der vergangenen Tage auf. "Wichtige" Träume - was nicht heißt, dass Alltagsverarbeitung unwichtig ist - zeichnen sich in erster Linie durch starke Emotionen - welcher Art auch immer - aus. Dabei muss, wie oben festgehalten, der Inhalt nicht mit der Emotion übereinstimmen. Es gibt Albträume, die alle Klischees erfüllen und trotzdem keine sind, weil ich mich nicht fürchte. Umgekehrt gibt es Träume, in denen kaum etwas passiert, ich aber total emotional erwache. Das Gefühl ist mindestens genauso wichtig wie das Bild und für die Deutung ist beides essentiell. Mir ist mittlerweile häufig klar, was mir meine Träume sagen wollen oder wie sich meine Psyche da gerade austobt.
Wenn FreundInnen mir von ihren Träumen erzählen und meine Deutung wissen wollen, mache ich nichts anderes als ihnen zuzuhören und zu wiederholen, was sie mir sagen. In der Regel liefern sie die Erklärung gleich in der Beschreibung mit. Für mich nur selbstverständlich, denn jede/r ist Experte/in seiner/ihrer Träume. Von Deutungsbüchern oder Verallgemeinerungen alla Freud (Schlange = Penis) halte ich nichts, denn es macht einen Unterschied, ob man Angst vor Schlangen hat, Schlangenzüchter ist oder am Vortag im Reptilienzoo war. Je nachdem wird der Traum eine andere Bedeutung haben.
Habe ich das Gefühl ein Traum will mir etwas sagen (kommt vor), höre ich darauf, selbst wenn das bedeutet Terry Pratchett zu lesen (und wie erwartet zu hassen), weil ich von dem Buch geträumt habe und es mir nicht erklären konnte.
Bei Personen gehe ich mittlerweile davon aus, dass Fremde ich selbst oder Aspekte von mir selbst sind, während es bei Bekannten (FreundInnen, Verwandte etc), nicht zwangsläufig um die Person selbst geht, sondern die Person für eine Charaktereigenschaft, eine Zeit oder ein Gefühl steht, die ich mit ihr verbinde. Das erklärt auch, warum manchmal längst vergessene Menschen in Träumen plötzlich wieder eine Rolle spielen.
So spannend und lehrreich es ist herauszufinden, was des nächtens so im eigenen Kopf vor sich geht (wobei ich davor warne, das als absolute Wahrheit anzusehen, denn sobald der wache Verstand mit Stift und Buch zur Hand ist, schalten sich auch Zensor und Wissen wieder ein, die verzerren, ordnen, kategorisieren und rationalisieren), so anstrengend kann das bei Zeiten auch werden. Es gab eine Phase, da konnte ich mich morgens an sechs bis sieben unterschiedliche Träume erinnern. Die alle aufzuschreiben raubte meinem Tag viel Zeit und meinem Schlaf Erholung. Manche Träume sollten womöglich lieber vergessen bleiben (?) Ich beende diesen Satz mit einem Fragezeichen in Klammern, da ich mir nicht sicher bin, ob dem so ist.
Ich weiß nur, dass erholsamer Schlaf eine Notwendigkeit für psychische Gesundheit ist und die Anzahl der erinnerten Träume überstieg damals meine Kapazitäten sie zu verarbeiten. Nach ca. einer Woche ertränkte ich meine Erinnerung mit viel Alkohol, was mir den ersten traumlosen Schlaf seit Monaten bescherte. Ich beschloss eine Aufzeichnungspause einzulegen, die ich bereits nach wenigen Tagen abbrach, da sich ein emotionaler Traum aufdrängte, festgehalten zu werden. Das morgendliche Aufschreiben war mittlerweile so zur Routine geworden, dass ich mir nicht mehr vorstellen konnte, darauf zu verzichten. Seitdem hat es sich eingependelt.
Ich erinnere mich an mindestens einen Traum/Nacht, wobei es immer wieder Phasen des intensiven Träumens und Phasen des intensiven Schlafens gibt und braucht. Wenn ich nachts erwache, weiß ich mittlerweile an welche Träume ich mich auch am Morgen noch erinnere und welche ich sofort notieren muss und ich habe mich so darauf konditioniert meinen Tag mit Schreiben zu starten, dass ich oft träume ich hätte einen Traum bereits notiert, nur um dann festzustellen, dass dem nicht so ist und mein Unbewusstsein auf diese Weise noch etwas Schlafenszeit geschunden hat.
Ich weiß in Träumen häufig, dass bestimmte Dinge nicht sein können (ein unbestimmtes Gefühl, dass das zwar jetzt - im Traum - so ist, aber nicht in Wirklichkeit), habe aber trotzdem ein wiederkehrendes Traumthema und in der Situation denke ich mir jedes Mal: "Oh nein, wie konnte es dazu kommen? Ich hab mir doch geschworen, dass das nie wieder passiert!", ohne zu checken, dass es dann nur ein Traum sein kann.
Ein paar wenige Träume haben es in Geschichten von mir geschafft (in 3 a.m. stecken ein paar), als wirkliche Inspirationsquelle würde ich sie allerdings nicht bezeichnen, eher als interne Psychotherapie, die mir Themen und Gefühle zeigt, die in mir arbeiten, was manchmal sterbenslangweilig, häufig interessant und hin und wieder angsteinflößend ist. Klassische Albträume in denen Furcht dominiert, hatte ich schon Jahre nicht mehr, die negativen Gefühle die auftauchen, sind wesentlich vielschichtiger.
Auf diese Weise sind in den letzten zehn Jahren 18 Traumtagebücher entstanden, manche dicker manche dünner, die besonders schönen haben sich meist als unpraktisch und schnell gefüllt erwiesen. Ich habe mich nie hingesetzt und sie komplett durchgelesen, wobei sie sicher spannende Auskünfte darüber geben, was für ein Mensch sie verfasst hat. Wenn ich durchblättere und reinlese, bin ich überrascht, an wie viele Träume ich mich noch erinnere und wie viele Bilder sich sofort vor meinem inneren Auge bilden, obwohl es mir so vorkommt als werden die Träume direkt nach dem Aufschreiben von meiner Festplatte gelöscht. Nur mir Mühe erinnere ich mich tagsüber daran, was ich letzte Nacht geträumt habe, aber wenn ich die Aufzeichnung lese, weiß ich es sofort ganz genau.
Wer weiß, was ich mit diesen Büchern mal machen werde. Momentan ist es einfach ein gutes Gefühl, sie zu haben und sie sind eines der wenigen sentimentalen Dinge, an denen ich hänge. Wer weiß, vielleicht beherbergen sie mehr Wissen, als ich glaube, schließlich bin ich schon mehrmals draufgekommen, dass ich von Sachen geträumt habe, die Tage oder erst Wochen später Sinn gemacht haben, bzw. relevant geworden sind. Aber will ich das immer so genau wissen(?)
Bücher zum Thema:
Träume erinnern und deuten: Eine praktische Anleitung von Christoph Gassmann
Schöpferisch Träumen. Wie Sie im Schlaf das Leben meistern: Der Klartraum als Lebenshilfe von Paul Tholey, Kaleb Utecht
Exploring the World of Lucid Dreaming von Stephen LaBerge, Howard Reingold
Helfende Träume. Mit Träumen Probleme lösen und Beziehungen beleben von Klausbernd Vollmar